Interview: Sabrina Höflinger
Tobias Luthe ist staatlich geprüfter Berg- und Skiführer, Professor für Resilient Regenerative Systems an der ETH Zürich, Gastdozent an der Oslo School of Architecture and Design und Unternehmensgründer. Ein wahres Multitalent sowohl am Berg als auch in Forschung und Entwicklung. Derzeit lebt der 48-Jährige in einem Nord-Süd-Transekt zwischen Oslo in Norwegen, Freiburg im Schwarzwald, Zürich in der Schweiz und Ostana im italienischen Piemont, wo er das MonViso Institute gegründet hat, ein öffentlich zugängliches Real-World-Labor für Nachhaltigkeitstransformation und regeneratives Design.
Tobias hat mit uns über unsere diesjährigen Fokusthemen „Verantwortung, Wandel und Chancen“ gesprochen und die eine oder andere Lebensweisheit eines Weitgereisten mit uns geteilt.
Wie definierst du den Begriff Verantwortung? Gibt es unterschiedliche Definitionen in deinen unterschiedlichen Rollen?
An erster Stelle steht für mich die Verantwortung für mich selbst. Denn nur wenn wir selbst möglichst 100 % unseres eigenen Lebens, unserer eigenen Substanz haben und erhalten, nur dann können wir geben und nicht dauerhaft unter unseren eigenen Ressourcen leben. Das heißt, Verantwortung für diese Ressourcen zu halten, um dann das, was man übrig hat, anderen zu geben. Auf vielfältige Weise. Ökologisch, sozial.
Zur Verantwortung gehört auch die Verantwortung für die Natur. Leider haben wir vergessen, wie wir damit umgehen müssen und dass wir Teil dieses komplexen Systems sind.
Verantwortung für die Familie. Gerade wenn die Eltern alt werden und Hilfe brauchen, oder Geschwister und Kinder, für Freunde. Freundschaften, die gepflegt werden wollen und die sich auch weiterentwickeln. Eine ganz wichtige Verantwortung.
Natürlich in der Führung. Wichtig für mich ist das Prinzip „Primus Inter Pares“. Der Guide, der Bergführer, ist im Idealfall nicht als Person sichtbar, sondern eine Person in einer Gruppe. Und man hat gemeinsam Freude an dem, was man tut. Gleichzeitig hat man natürlich die Verantwortung, jederzeit, wenn es notwendig ist, die Gruppe direkt zu führen und auch Entscheidungen zu treffen.
Ansonsten bedeutet Verantwortung für mich, etwas zurückzugeben. Ich selbst habe sehr davon profitiert, dass ich in einem sicheren Land aufgewachsen bin, in einer sicheren Zeit, in einer wirtschaftlich sicheren Zeit, dass ich mich entwickeln konnte, dass ich Ausbildungen aller Art genießen konnte. Und deshalb glaube ich, ist Verantwortung auch etwas zurückzugeben.
Wie kann jede und jeder von uns (mehr) Selbstverantwortung speziell im Bergsport übernehmen?
Für mich gibt es eine klare Analogie zwischen dem Bergsport und dem Leben im Allgemeinen. Bergsport ist in seinen Facetten wahnsinnig stark, die eigenen Grenzen zu erfahren. Aus der Komfortzone in die Lernzone und auch in die Nähe oder in die Panikzone zu kommen und damit zu spielen. Und da gehört sehr viel Selbsterkenntnis, Selbstwachstum, Reife, Erfahrung und Zeit dazu. Es braucht einfach Zeit und das ist schwierig in der heutigen Kultur. Diese Geduld zu haben, zu lernen und ja, ein Lernender zu sein, ein Anfänger zu sein, das gehört dazu, das auch auszuhalten. Ich finde es schön, ein Anfänger zu sein und ich finde es schön, ein lebenslanger Student zu sein, das ist eine Grundlage für Verantwortung, für Selbstverantwortung.
Und das lässt sich wunderbar auf den Bergsport übertragen. Wir planen eine Bergtour mit allen Daten, die wir haben, Wetter, Länge der Tour, Zeiten, Ausrüstung, Technik, Gruppe, Kondition, ... Und trotzdem kommt es immer anders und wir müssen immer wieder neu planen.
Verantwortung heißt auch, sensibel mit der Natur umzugehen und systemisch zu denken. Und "learn to unlearn to relearn", Offenheit ist auch ein Teil der Verantwortung. Fragen stellen, bewusst Teil von Systemen sein.
Du beschäftigst dich beruflich stark mit der Zukunft und Gestaltung von Systemen und Prozessen vor allem im alpinen Kontext. Woher kommt dieser Antrieb innovativ und neu zu denken? Und woher kommt deine Resilienz dafür?
Ich beschäftige mich beruflich schon mein ganzes Leben lang sehr stark mit Zukunftsfragen, mit Nachhaltigkeitsthemen, mit Wissenschaft, mit Design, aber auch mit Unternehmertum und Umsetzung. Und das nicht nur im Alpinen, sondern generell. Aber das Alpine, die Berge sind eine Art Barometer, wie eine Antenne für Veränderungen. In den Bergen kommt der Wandel oft besonders schnell, besonders stark, besonders früh. Und das können wir als eine Art Indikator nutzen, um daraus zu lernen. Für andere Systeme.
Die Basis für mich war sicher die Familie, wo meine Eltern mir das Urvertrauen mitgeben konnten, was heute auch zu der Fähigkeit der „organic emergence“ führt, das Vertrauen, dass man mit Unsicherheit umgehen kann. Das kann man trainieren, aber die Basis ist das Urvertrauen, das in der Familie vermittelt wird. Das habe ich bekommen, zum Glück, und deshalb kann ich auch einiges zurückgeben, das möchte ich auch. Die Nähe zur Natur ist sehr wichtig. Da kommt viel Energie her, viel Kraft, viel Motivation, viel Freude. Ausdauersport, körperlich und geistig. Und ja, die Härte des Bergsports und des Ausdauersports, die verschiedenen Arten von Flow, die man da körperlich und mental spürt, das sind wichtige Werkzeuge. Dazu kommt, dass man eine starke Vision hat, eine Art Kompass, der einem hilft, zu navigieren und immer zu wissen, wo man ist. Und das hatte ich immer.
Wie findet man heraus, welche Chancen im Wandel liegen?
Ich glaube, am Anfang steht eine große Offenheit. Offenheit für Neues. Neugier. Fragen zu stellen. Zuhören. Hinschauen. Und das geht natürlich besonders gut, wenn wir uns sicher fühlen, wenn wir gesund sind, wenn wir wirtschaftlich so abgesichert sind, dass wir ohne große Sorgen leben können, wenn wir ein soziales Netz haben. Das muss man erst einmal schaffen und das ist die Basis, um Chancen im Wandel zu sehen.
Ein großes Verständnis von Natur, ein Verständnis von Komplexität, ein Verständnis, wie sich natürliche Systeme und sozial-ökologische Systeme entwickeln, das sind Wellenformen, wo Krisen notwendig sind, um Innovation, Erneuerung zu bringen. Stabilität ist sich wiederholende Instabilität. Das heißt, Krisen sind natürlich. Krisen müssen sein und sie eröffnen die Chance zur Erneuerung. Nur so bleibt das System stabil. Das heißt, man muss sich darauf vorbereiten, und man muss es auch genießen. Und auf der anderen Seite, wenn es schlecht läuft, geht es auch wieder aufwärts. Und um diese Chancen zu sehen, die im Wandel liegen, braucht es einen großen Fokus auf die innere Entwicklung, auf die innere Resilienz, die man lernen und trainieren kann. Denn alle sozial-ökologischen Systeme brauchen ständigen Wandel, um stabil zu bleiben.
Welcher Wandel steht den Erholungssuchenden am Berg in den nächsten Jahren bevor?
Ich glaube, und wir beobachten, dass wir in einer Zeit der multiplen Krisen leben, multipler Krisen, die sich gegenseitig bedingen, die immer schneller werden, die sich gegenseitig verstärken. Und in dieser Zeit ist es sicher wichtig, innezuhalten, sich immer wieder neu zu orientieren, nicht zu hetzen. Weniger ist mehr. Und es braucht viel innere, bewusste Arbeit und Wachstum an sich selbst, um diesen Wandel überhaupt zu bewältigen. Es braucht Verzicht als wunderbare Tugend der Genügsamkeit. Das heißt durchaus auch, weniger oft und weniger kurz zu reisen, dafür aber länger, mit Ruhe, mehr Zeit, mehr Qualität statt Quantität. Ganz wichtig. Extremereignisse nehmen zu. Überall, klimabedingt. Aber auch in anderen Dichten im Weltgeschehen. Auch gesundheitlich. Und das hat Auswirkungen auf alles, auf unsere Mobilität, die wir überdenken müssen. Weniger schnell weit reisen, mehr auch in der eigenen Region machen und einen langsamen Tourismus wiederentdecken, zum Beispiel mit dem Fahrrad. Klimawandel und das, was wir vor 15 Jahren in der Tourismusforschung diskutiert haben, dass der Bergtourismus von höheren Temperaturen insgesamt profitieren kann, dass es zum Beispiel im Mittelmeerraum im Sommer zu heiß wird, zu brandgefährlich, das ist eingetreten. Auch Covid hat dazu geführt, dass viel mehr Druck auf die Berggebiete entstanden ist, siehe auch Zweitwohnsitze. Und das sind natürlich Herausforderungen, viele Probleme, die damit verbunden sind.
Bei allen Vorteilen der immer weiter fortschreitenden Digitalisierung und künstlichen Intelligenz und all dem, was viel Positives mit sich bringt, auch die Balance zu halten, zum Beispiel offline wieder mehr Kontakte zu pflegen, zum Beispiel auch mal ein klassisches Büchlein zu lesen und nicht nur das mobile Gerät und den schnellen Konsum von Social Media, um die Balance zu halten.
Und wie gesagt, die innere Entwicklung ist ein ganz wichtiger Teil.
Auch die Bergwacht Bayern ist mit dem Thema Wandel konfrontiert. Was kannst du den aktiven Einsatzkräften mit auf den zukünftigen Weg geben?
Zuerst möchte ich mich bei der Bergwacht in Bayern, aber auch generell bei den Bergwachten hier im Piemont bedanken. Für diesen wichtigen Dienst, für diese Unterstützung, direkt menschlich vor Ort.
Das sind die Leute, die die Rettung umsetzen, die die Ortskenntnis haben. Die Möglichkeiten, schnell an entlegene Orte zu kommen, zu wissen, wo was ist, was zu tun ist. Dafür Dankbarkeit und Respekt.
Dann ist, wie gesagt, eine höhere Komplexität zu erwarten. Mehr gleichzeitige Krisen, mehr soziale Extreme. Der Klimawandel ist natürlich ein großer Teil davon, gerade im Bergsport. Extreme Wetterlagen, stärkere Stürme, stärkere Veränderungen, Trockenzeiten, Starkniederschläge, Stürme, extrem kalt, extrem heiß, Veränderungen im Permafrost, in der Felsstabilität, Gletscherschwund und vieles mehr. Insgesamt werden die Touren anspruchsvoller und gefährlicher und damit auch die Rettungseinsätze.
Es findet eine weitere Diversifizierung statt, mit der sich die Bergrettung auseinandersetzen muss. Einmal die Zunahme der Outdoor-Aktivitäten, das hat sich in 20 Jahren unglaublich verändert. Es ist überall immer viel los. Die leichte und hochwertige Ausrüstung macht vieles möglich, aber auch die sozialen Medien. Und ja, natürlich auch die Schönheit und Attraktivität dieser Aktivitäten, die immer mehr Menschen kennenlernen. Und dadurch werden immer mehr unvorbereitete oder auch unerfahrene Menschen in für sie gefährliche Situationen im Gebirge kommen, was auch zu mehr Rettungseinsätzen führen wird. Dann gibt es technologische Fragen und Abhängigkeiten. Wir sind immer mehr abhängig von Navigationsgeräten, Satellitennavigation, Kommunikation - wenn die ausfallen, Strom reicht schon, dass der Strom weg ist, Batterien, dann fehlen oft die notwendigen Grundfertigkeiten, um ohne Technik zu navigieren. Und das muss man auch wieder lernen. Wieder diese Frage der Balance. Die Technologie ist wunderbar, aber man braucht auch die Grundlagen. Im Ernstfall also eine viel bessere Ausbildung, die wir fördern und auch schaffen müssen. Ich glaube, dass im Tourismus noch viel mehr getan werden kann. Touristen mehr als Shareholder und Careholder einzubinden. Für Erlebnisse, wo man auch etwas lernt und nicht nur schaut und isst und konsumiert, sondern aktiv Beiträge leistet für einen regenerativen, nachhaltigen Tourismus. Was unter anderem auch bedeutet, Verantwortung für die Ökologie zu übernehmen, sich für die lokale Kultur zu interessieren. Und ja, auch zu spenden, sei es Zeit, Arbeit, Gedanken, Wissen, Kontakte, Geld, um die Systeme vor Ort zu verbessern. Und es heißt auch, Rettungskräfte zu unterstützen, es heißt auch, selber Kurse zu machen und sich selber weiterzubilden, um gewisse Dinge auch selber machen zu können. Unterstützen zu können.
Dann Gesundheitsrisiken, Biosicherheit, Pandemien, das haben wir mit Covid erlebt, das wird aller Voraussicht nach weitergehen und mehr werden. Das sind auch Herausforderungen, damit umzugehen. Und dort in diesen Phasen sicher zu agieren. Das heißt, das Ganze erfordert auch für die Rettungsteams wieder sehr viel Selfcare, sehr viel Selbstverantwortung, in die persönliche Resilienz und innere Entwicklung zu investieren, Auszeiten zu nehmen und auch einzuhalten, Entscheidungsprozesse sehr flexibel und auch adaptiv zu gestalten, auch Managementprozesse und immer wieder zu überlegen, was muss priorisiert werden. Immer wieder neu. Denn alles um uns herum verändert sich, immer schneller. Wir müssen mit diesem Wandel mit agieren.
Bergwacht-Zentrum für Sicherheit und Ausbildung
Wir sind der Ort für Ausbildung und Training unter realen Herausforderungen, innovativ, intensiv und nach hohen Standards. Wir ermöglichen Training und Ausbildung für die Rettung von Menschen und die Sicherheit der Einsatzkräfte.
KONTAKT
Bergwacht Zentrum für Sicherheit und Ausbildung
Am Sportpark 6, 83646 Bad Tölz
E-Mail: info@stiftung-bergwacht.org
Telefon: +49 8041 79438 41